Medizinische Berufe Chirurgie hinkt in Sachen Gleichberechtigung hinterher

In der Schweiz sind viele chirurgische Disziplinen noch immer von Männern dominiert. Und das, obwohl insgesamt der Anteil der Ärztinnen in der Schweiz stetig zunimmt. Einer der Gründe: Sexismus ist unter Chirurgen häufiger anzutreffen als anderswo.

Seit Anfang der 2000er Jahre schliessen in der Schweiz mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium ab. In einigen Disziplinen wie Gynäkologie, Pädiatrie und Kinderpsychiatrie sind Frauen inzwischen in der Mehrheit.

Aber die Chirurgie hinkt in Sachen Gleichberechtigung hinterher. Unter den praktizierenden Chirurgen sind nur 23 Prozent Frauen. Je nach chirurgischem Fachgebiet liegt der Anteil noch tiefer.

Der «Boys-Club»-Effekt

Emma*, die an der Universität Genf im sechsten Jahr Medizin studiert, sagt gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS), dass in der Chirurgie Sexismus und unangemessenes Verhalten eher toleriert werden als in anderen Abteilungen.

«In der Pädiatrie zum Beispiel sind sexistische Witze sehr verpönt, während es in der Chirurgie eine Art Laissez-faire gibt», sagte Emma. Sie ist der Meinung, dass ein «Boys-Club-Effekt», die männliche Kumpanei, der Grund dafür sei.

Professor Frédéric Triponez, Leiter der Abteilung für Chirurgie am Universitätsspital Genf, bestätigt das: «In der Chirurgie gibt es immer noch mehr Männer als Frauen, also gibt es wahrscheinlich immer noch etwas mehr unangemessenes Verhalten als anderswo.» Aber er betont: «Diese Verhaltensweisen sind weder toleriert noch tolerierbar.» Und die Situation habe sich in den letzten Jahren verbessert.

Gemäss einer Umfrage unter Studierenden an den Universitäten Genf, Lausanne, Bern und Zürich gibt es einen weiteren Grund für den geringen Frauenanteil in der Chirurgie: Männer und Frauen orientieren sich bei der Wahl ihrer Spezialisierung an unterschiedlichen Kriterien. Für die Frauen stehen vor allem die Arzt-Patienten-Beziehung im Vordergrund und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Mit «dialog» einen Blick über die Sprachgrenzen werfen

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Dieser Artikel erschien zuerst auf Französisch bei RTS und wurde von der «dialog»-Redaktion übersetzt. Die Originalversion können Sie auf  RTS  lesen.

«Ich vermisse die menschliche Seite der Chirurgie», sagt die Medizinstudentin Lisa* gegenüber RTS. «Ich habe den Eindruck, dass wir die Patienten mehr reparieren als heilen.» Professor Triponez vom Universitätsspital Genf bestätigt das: «Die meisten Frauen wollen Dinge tun, die feiner sind als das Schneiden von Knochen.»

Die gläserne Decke

Je höher die Hierarchiestufe in den Spitälern, desto geringer der Anteil der Frauen, unabhängig von der medizinischen Fachrichtung. Über alle Fachrichtungen hinweg beträgt der Frauenanteil unter den Chefärzten nur 18 Prozent. In der Chirurgie sind es 4.7 Prozent.

Das liege auch am Mangel an weiblichen Vorbildern, meint Barbara Wildhaber, Leiterin der Kinderchirurgie am Universitätsspital Genf. «Die Tatsache, dass es Chirurginnen gibt, weckt bei anderen Frauen den Wunsch, Chirurgin zu werden, und zeigt ihnen, dass es möglich ist, diesen Beruf auszuüben.»

Der Wunsch, eine Familie zu gründen, kann ein Hindernis für eine Karriere als Chirurgin sein. Wildhaber versichert aber: «Es ist möglich, Mutter und Chirurgin zu sein, und ich mache es meinen Kolleginnen und Kollegen möglich. Ich habe mehrere Frauen in meinem Team, und viele von ihnen haben Kinder.»

Sie sei sich aber bewusst, dass es nicht in allen Abteilungen solche Bedingungen gibt: «Der Chef muss sich auf die Frauen einstellen und ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen», sagt Wildhaber. «Die Angst vor einem mehrmonatigen Mutterschaftsurlaub kommt von dem Umfeld, das wir schaffen.»

* Name von der Redaktion geändert.

RTS «La Matinale», 19.8.2024, 7:25 Uhr;lehl

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