Wut auf der Strasse «Road Rage»: Wenn die Nerven im Verkehr blank liegen

Ein Streit im Strassenverkehr in Paris hat tödlich geendet. Ein SUV-Fahrer überrollt einen Velofahrer. Der 27-Jährige stirbt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen Mord. Es gibt einen Namen für Wut, die im Verkehr eskaliert: Road Rage. Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry erklärt, woher diese Wut kommt und was sich dagegen tun lässt.

Jacqueline Bächli-Biétry

Verkehrspsychologin

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Die promovierte Psychologin und Fachpsychologin für Verkehrspsychologie Jacqueline Bächli-Biétry arbeitet seit mehr als 30 Jahren als freiberufliche Verkehrspsychologin in Zürich. Sie erstellt überwiegend psychologische Begutachtungen, um die charakterliche Fahreignung zu überprüfen.

SRF News: Warum liegen die Nerven auf der Strasse blank?

Jacqueline Bächli-Biétry: Das hat sicher mit der Verkehrsdichte zu tun. Der Verkehrsraum wäre ja grundsätzlich dafür da, dass man sich von A nach B bewegen kann, und zwar ohne grosse Hindernisse. Ich glaube, die Frustration kommt daher, dass wir sehr häufig mit Situationen konfrontiert sind, in denen wir nicht so schnell vorwärtskommen, wie wir wollen, oder uns andere daran hindern, vorwärtszukommen. Diese Situationen bergen ein grosses Frustrationspotenzial.

Was bedeutet «Road Rage»?

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Als Road Rage wird die Wut im Strassenverkehr bezeichnet. Verkehrsteilnehmende reagieren wütend, wenn sie in ihrem Fortkommen behindert werden, erklärt Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry. Das kann durch einen Fussgänger geschehen, der über die Strasse will, oder eine Velofahrerin, die bei Rot noch schnell über die Ampel fährt. Die Wut, die sich dann entwickelt, kann laut Bächli-Biétry zur rasenden Wut werden und in gewissen Umständen sogar tödliche Folgen haben.

Nimmt diese Frustration und Aggression zu? Welche Tendenz nehmen Sie wahr?

Vermutlich nimmt die Frustration mit der zunehmenden Dichte im Verkehr zu. Je mehr Stau es gibt, desto mehr Konfliktstellen ergeben sich. Wo viele Leute aufeinandertreffen, da steigt natürlich auch das Konfliktpotenzial.

Wenn ich eine sehr sachliche Beziehung zu meinem Fahrzeug habe, dann neige ich weniger zu solchen emotionalen Reaktionen, als wenn das Auto für mich zur Erhöhung meines Selbstwerts dient.

Welche Dimensionen kann denn dieser Ärger, diese Wut, diese Aggression, annehmen?

Das hängt einerseits mit der Persönlichkeit der Betroffenen zusammen. Die Persönlichkeitsstruktur beeinflusst das Verhalten in Konfliktsituationen massgeblich. Leute, die eher eine geringe Frustrationstoleranz haben, haben eine höhere Tendenz, aggressiv zu reagieren, wenn sie behindert werden. Ähnlich sieht es aus bei Leuten, die dazu neigen, emotionsgesteuert zu handeln. Andererseits hängt es mit der Einstellung zusammen. Wenn ich eine sehr sachliche Beziehung zu meinem Fahrzeug habe, also das Auto nehme, um damit von A nach B zu kommen, dann neige ich weniger zu solchen emotionalen Reaktionen, als wenn das Auto für mich auch zur Erhöhung meines Selbstwerts dient.

Kann diese Wut alle betreffen – egal, ob man mit dem Velo oder dem Auto unterwegs ist?

Natürlich. Aber das Problem ist, dass Autofahrer und Autofahrerinnen diese Wut relativ einfach körperlich umsetzen können. Wenn ich hingegen als Fussgänger oder Fussgängerin gegen ein Auto trete, ist der Schaden in der Regel relativ gering. Auch auf dem Velo habe ich nicht diese Power, die das Auto hat. Das Auto ist in diesem Fall eine tödliche Waffe.

Autos an einem Zebrastreifen mit wartenden Fussgängern.
Legende: Mit einem Auto lässt sich weitaus grösserer Schaden anrichten als zu Fuss. Keystone/PETRA OROSZ

In welchen Situationen kann es richtig gefährlich werden?

Es sind immer Situationen, in denen jemand in seinem vermeintlichen Vorrecht bedrängt oder behindert wird. Die Person im Auto oder auf dem Velo oder auch zu Fuss, die das Gefühl hat, sie darf sich jetzt ungehindert fortbewegen. Das ist eine ganz alltägliche Situation. Je nach Persönlichkeitsdisposition kann eine Kleinigkeit eine solche Wutreaktion auslösen.

Wenn man ab und zu auch zu Fuss unterwegs ist, dann fällt es einem leichter, sich in die Psyche von anderen Verkehrsteilnehmenden zu versetzen.

Was kann man tun, damit man sich im Strassenverkehr nicht so schnell aufregt?

Ich plädiere immer für einen emotionsbefreiten Verkehr. Man soll versuchen, das Fortbewegungsmittel von seinen persönlichen Gefühlen und von seinem Selbstwert zu trennen. Man soll sich sagen, dass man von A nach B möchte – möglichst unbeschadet. Gleichzeitig muss man akzeptieren, dass andere ebenfalls von A nach B kommen wollen. Wirklich dienlich ist auch, wenn man verschiedene Fahrzeuge benutzt und ab und zu auch zu Fuss unterwegs ist. Dann fällt es leichter, sich in die Psyche von anderen Verkehrsteilnehmenden zu versetzen. Man ist in der Regel toleranter gegenüber anderen und auch zweckorientierter unterwegs.

Das Gespräch führte Reena Thelly.

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News Plus, 21.10.2024, 16 Uhr ; 

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