Flucht vor der Mobilisierung Die Angst der russischen Männer

In Russland sind Tausende Männer vor der Einberufung geflohen. Manche versuchen im benachbarten Ausland ein neues Leben aufzubauen. Andere verstecken sich seit Monaten. Auch Russen in der Schweiz sind betroffen.

Maxim hat eine Odyssee hinter sich. Dreimal hat er versucht, Russland zu verlassen. Dreimal wurde ihm die Ausreise verwehrt. Wegen der Teil-Mobilisierung ist der studierte Ingenieur auf einer Liste gelandet. Er darf nicht weg, sondern muss sich bei der Armee für weitere Abklärungen melden. «Ich habe mich gefühlt, als wäre ich mit einem wilden Tier in einem Käfig eingesperrt. Und du weisst nicht, wann es dich anspringt», sagt er zur «Rundschau».

Er flieht schliesslich illegal über die grüne Grenze nach Belarus und fliegt von dort nach Kirgistan. In der Stadt Osch arbeitet Maxim vorerst weiter übers Internet als Koordinator in der Erwachsenenbildung.

Angst vor einer Gefängnisstrafe

Am 21. September hat Wladimir Putin eine Teil-Mobilmachung ausgerufen. Bis Ende November wurden nach offiziellen Angaben 300'000 Reservisten eingezogen.

Reservisten stehen in Reih und Glied: eine Nahaufnahme. Sie tragen Helm und Uniform.
Legende: Russische Reservisten an einer Zeremonie in der Region Rostow, bevor sie an die Front geschickt werden. (31. Oktober 2022) REUTERS/Sergey Pivovarov

700'000 Männer und Frauen sollen gemäss dem Magazin «Forbes» in den ersten zwei Wochen nach der Teil-Mobilisierung Russland verlassen haben. Die meisten sind nach Georgien, Kasachstan und andere Länder Zentralasiens geflohen.

Einige Wenige sind in die Schweiz gekommen. So auch Vladislav. Da er auf keinen Fall in den Krieg ziehen will, befürchtete der Ingenieur, im Gefängnis zu landen. «Entweder sie verhaften dich, weil du dich trotz Aufgebot versteckst oder du lässt dich rekrutieren, weigerst dich aber, in den Krieg zu ziehen. Dafür drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis», sagt er. Vladislav hat deshalb in der Schweiz Asyl beantragt.

Misstrauen und Willkür

Nach geltendem Recht riskieren Russinnen und Russen allerdings nur eine Busse, wenn sie ein Aufgebot für die Teil-Mobilisierung ignorieren. Auch existiert ein Recht auf alternativen Dienst.

Doch viele fürchten sich vor Willkür oder schnellen Gesetzesverschärfungen, zumal solche bereits von Parlamentariern gefordert wurden. «Wenn ich nach Russland zurückkehre, rechne ich damit, dass ich gleich an der Grenze eingezogen werde», sagt etwa der Informatiker Oleg, der seit sechs Jahren in der Schweiz lebt und im Oktober ein Aufgebot der Armee erhalten hat.

Wladimir Putin hat die Teil-Mobilisierung Ende Oktober für beendet erklärt. Ein entsprechendes Dekret hat er allerdings nicht veröffentlicht. Verschiedenen Berichten zufolge geht die Mobilisierung verdeckt weiter. Bei vielen bleibt das Misstrauen gross.

Ungewisse Zukunft

Maxim, der in Wirklichkeit anders heisst, will so schnell nicht nach Russland zurückkehren. «An den letzten drei Tagen, als ich noch in Moskau arbeitete, kam die Polizei gegen Feierabend in unser Büro, um einen Mitarbeiter zu rekrutieren.»

Gegen Ende des Arbeitstages habe er sich jeweils in seinem Büro eingeschlossen und das Licht ausgeschaltet. In so einer Atmosphäre habe er nicht leben wollen, sagt Maxim. Deshalb habe er alles daran gesetzt, seine Heimat zu verlassen.

Rundschau, 30.11.2022, 20:05 Uhr

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