Verheugen halb versteckt hinter einer EU-Flagge.
Legende: Der frühere EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. Reuters

International «Die EU-Osterweiterung hat Stabilität gebracht»

Vor genau zehn Jahren ist die EU auf einen Schlag um zehn Staaten und 75 Millionen Menschen grösser geworden. Heute gilt die Osterweiterung als Erfolg – aber man fragt sich auch, ob mit dem schnellen Ausbau nach Osten nicht Russland in die Enge getrieben wurde.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Günter Verheugen zweifelt keine Sekunde daran, dass der Ausbau der EU nach Osten richtig gewesen sei. Er war seinerzeit als EU-Kommissar verantwortlich für die Verhandlungen mit den zehn Kandidatenländern. Verheugen beklagt einzig, dass vom Erfolg gar nicht mehr gesprochen werde, weil er bereits selbstverständlich geworden sei.

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«Dass dieser ganze Raum zwischen Ostsee und dem Schwarzen Meer politisch stabil ist – und nicht ein Niemandsland geworden ist – wird verschwiegen», sagt Verheugen heute. Ohne EU-Osterweiterung würde nun möglicherweise ein Tauziehen zwischen Ost und West stattfinden.

Man müsse sich – gerade angesichts der Entwicklung in der Ukraine – mal vor Augen führen, was es bedeutet hätte, wenn solche Auseinandersetzungen heute auch über Länder wie Polen, Tschechien oder Ungarn geführt werden müssten.

Demokratie kommt nicht über Nacht

Natürlich gebe es noch Probleme, das sei keine Frage. Er erwähnt etwa Rumänien oder Bulgarien. Aber: «Das hat doch jeder gewusst!» Es sei von Anfang an klar gewesen, dass es in diesen Ländern eine gewisse Zeit brauche, damit die demokratische Kultur sich verfestige. Da müsse man ein bisschen Geduld haben, so Verheugen weiter.

Man könne nicht von Ländern, in denen jahrzehntelang diktatorische Regimes regiert hätten, erwarten, dass sie von einem Jahr aufs andere zu Musterdemokratien würden. Aber ein sehr grosser Teil Europas sei heute wirtschaftlich und politisch stabiler als man es sich aufgrund des historischen Hintergrundes je hätte denken können.

Bedenken haben sich nicht bewahrheitet

Man schaue sich etwa die historisch sehr belasteten Beziehungen Deutschlands zu Polen oder Tschechien an, so Verheugen. «Heute haben wir ein Verhältnis zwischen Deutschland und Polen, wie wir es seit 300 Jahren nicht mehr hatten», führt er aus. Das sei eine der positiven Nebenerscheinungen der EU-Osterweiterung.

Die grössten Bedenken seien vor zehn Jahren aber aus Kreisen der Wirtschaft gekommen. Und die seien durch die Tatsachen widerlegt worden. Gerade eben habe er gelesen, dass das Institut der deutschen Wirtschaft «etwas kleinlaut» zugegeben habe, seine Prognose von 2004 wäre falsch gewesen. Die Befürchtung der deutschen Wirtschaft sei damals vor allem die gewesen, man werde gegen die Billigkonkurrenz aus dem Osten nicht bestehen können. Auch das habe sich nicht bewahrheitet.

Doch zeigt nicht die Ukraine, dass man zu schnell vorgegangen ist, dass man damit zu viel Druck auf Russland ausgeübt hat? Nein, meint der Mann, der lange Jahre den EU-Ausbau betrieben und ausgehandelt hat. Im Gegenteil. Man sei im Fall der Ukraine sogar zu zögerlich vorgegangen.

Ukraine: Richtigen Zeitpunkt wegen Timoschenko verpasst

Es sei ja nicht so, dass Russland oder der ukrainische Präsident Janukowitsch etwas gegen den Assoziierungsvertrag der Ukraine mit der EU eingewendet hätten. Im Gegenteil: Janukowitsch habe den Vertrag ja gewollt, der damalige ukrainische Präsident sei im November 2012 zur Unterschrift bereit gewesen. «Doch wir waren nicht bereit», sagt Verheugen. Und zwar wegen der im Gefängnis sitzenden Julia Timoschenko habe man die Assoziierung der Ukraine mit der EU blockiert.

Das sei ein klarer Fehler gewesen, meint Verheugen heute und er wird dabei recht emotional. Timoschenko sei zur Ikone von Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit hochstilisiert worden. «Doch das ist sie nicht, wie wohl inzwischen jeder weiss», so Verheugen weiter. Allein wegen ihr sei der wichtige Moment verpasst worden.

Jetzt stehe man vor der grossen, unmittelbaren Gefahr, dass Europa doch wieder in zwei Blöcke aufgespalten werde – dass genau das passiere, was man mit der EU-Osterweiterung habe verhindern wollen.

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