Schiitische Milizen auf einem Nissan-Truck patrouillieren durch die leeren Strassen von Tikrit.
Legende: Schiitische Milizen patrouillieren durch die leeren Strassen von Tikrit. Niemand will dahin zurück. Keystone

International «Tikrit ist eine Geisterstadt»

Im April haben die irakische Armee und schiitische Milizen die Stadt Tikrit von den Dschihadisten des IS zurückerobert. Doch Soldaten und Milizionäre hinterliessen verbrannte Erde. Viele Bewohner sind geflohen. Sie kehren wohl nicht zurück, wie eine Mitarbeiterin von Amnesty International erklärt.

SRF News: Donatella Rovera, als Krisenbeauftragte von Amnesty International sind Sie soeben aus der irakischen Stadt Tikrit zurückgekehrt. Was haben Sie dort gesehen?

Donatella Rovera

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Donatella Rovera
Legende: Reuters

Die Italienerin ist eine von 80 sogenannten Länder-Researchern in der internationalen Zentrale von Amnesty International in London. Diese unternehmen regelmässig Ermittlungsreisen in zahlreiche Länder oder Regionen der Welt, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.

Donatella Rovera: Die Stadt war und ist völlig verlassen. Man trifft nur ein paar Leute, die kurz vorbeischauen. Niemand kehrt wirklich in die Stadt zurück. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen. Sie haben zu sehr Angst vor Racheakten. Dabei hätte Tikrit zeigen sollen, das die irakische Regierung die schiitischen Milizen unter Kontrolle hat. Heute muss man sagen: Das Resultat ist gemischt. Die Racheakte und Plünderungen waren nicht so schrecklich wie in anderen zurückeroberten Orten in der Nähe. Aber Tikrit bleibt vorderhand eine Geisterstadt.

Das heisst, Tikrit wäre kein gutes Vorbild für die Rückeroberung von Mossul, der zweitgrössten Stadt des Landes?

Mossul ist eine andere Geschichte. Tikrit hat 100'000 bis 200'000 Einwohner. Mossul mehr als zwei Millionen. Zurzeit sieht es nicht so aus, als könnte es in naher Zukunft gelingen, den IS auch aus Mossul zu vertreiben. Die Frage ist auch, was bei einer Rückeroberung mit der Bevölkerung passieren würde. Letzte Woche sind die Einwohner von Ramadi geflüchtet – einer Stadt mit einer Viertelmillion Einwohner. Viele Zivilisten aus Ramadi, die nach Bagdad wollten, wurden nicht in die Hauptstadt hineingelassen. Da stellt sich schon die Frage, wohin die Millionen aus Mossul bei Kämpfen fliehen würden.

Wo leben diese Flüchtlinge aus Ramadi, die nicht nach Bagdad durften?

Das ist das grosse Problem für die sunnitische Bevölkerung im Irak. Wenn ihre Städte vom IS zurückerobert werden, können sie in der Regel nicht zurück. Deshalb sind letztlich viele in IS-kontrollierte Städte wie Mossul geflüchtet. Nicht weil sie den IS unterstützen, sondern weil sie keine andere Wahl hatten.

Sie sprechen von schiitischen Milizen und ihren Racheakten. Wie angespannt ist die Atmosphäre zwischen Sunniten und Schiiten im Gebiet rund um Tikrit?

Der Graben zwischen Sunniten und Schiiten wird immer tiefer. Sunniten müssen für die Grausamkeiten des IS büssen. Und zwar nicht nur in der Gegend von Tikrit, sondern im ganzen Irak.

Das Gespräch führte Matthias Kündig.

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