Wenn der Staat alles sieht Der perfekte Chinese

Das nächste soziale Experiment in Chinas Geschichte hat begonnen. In Versuchsstädten wie Shanghai oder Chongqing erprobt die Regierung die Zukunft der perfekten digitalen Überwachung.

«Sie sind keine vertrauenswürdige Person, leider können wir Ihre Buchung nicht durchführen.» Dieser Satz poppt auf Liu Hus Handy auf, sobald er ein Flug- oder Bahnbillett buchen will.

Der Satz hat sein Leben abrupt verändert. Denn Liu Hu steht seit ein paar Monaten auf einer schwarzen Liste der Regierung. Er ist einer der letzten Investigativ-Journalisten Chinas, seine Texte haben schon manchen korrupten Beamten das Fürchten gelehrt.

Volkserziehung auf chinesisch

Doch jetzt muss er sich fürchten. Er ist einer von rund zehn Millionen Chinesinnen und Chinesen, die auf einer schwarzen Liste stehen – weil sie keine perfekten Bürger sind. Liu Hu darf seither weder fliegen, noch Bahn fahren oder Wohneigentum kaufen. Wie er je wieder von der Liste gestrichen wird, weiss er nicht.

Die Liste ist erst der Anfang einer breit angelegten Volkserziehung, wie sie China wohl zum letzten Mal während der Kulturrevolution gesehen hat. Sie ist der Vorbote eines sozialen Kreditsystems, das China bis 2020 flächendeckend einführen will.

«Die Welt wird sicherer und das ist gut so»

Jedem Bürger und jeder Bürgerin wird bis dann eine Zahl zugeordnet, die aussagt, wie ehrlich, wie kreditwürdig, wie parteitreu sie oder er ist. Wie genau die Zahl zustande kommt, ist geheim. Die Zahl selber ist öffentlich. Helfen soll dabei modernste Technik. Schon heute liefern Millionen von hochauflösenden Kameras Bilder in riesige Datenzentren.

«Dank Gesichtserkennung können Kriminelle in Sekundenschnelle erkannt und verhaftet werden», preist ein Sprecher einer der führenden Kamerahersteller in Peking sein intelligentes Kamerasystem an. Es ist bereits in 22 von 23 Provinzen im Einsatz.

Eine intelligente Kamera mit modernster Gesichtserkennung ersetze hundert Polizisten, sagt er stolz. Bezahl-Apps belegen die Bonität, Suchanfragen im Internet erstellen das perfekte Psychogramm, fügt er an. Die Welt werde damit sicherer und das sei doch gut so.

Der Staat kann auf alles zugreifen

Die wichtigste Quelle für den gläsernen Chinesen tragen 1,1 Milliarden Menschen täglich mit sich herum: ihre Smartphones. In Echtzeit liefern die Geräte die Grundlage für das künftige Kreditsystem. Chinas Staat wird bald wissen, was jeder Bürger einkauft, welche Filme er schaut, welche Webseiten er besucht und was er seinen Freunden im Chat schreibt.

Datenschutz ist in China ein Fremdwort. Ob Online-Bezahlapps, Online-Shops oder Chatprogramme – auf alles kann Chinas Staat zugreifen, wenn er will. Dagegen wehren kann man sich kaum.

Offiziell sagen die grossen Online-Firmen Alibaba und Tencent zwar, dass ihre Daten nicht weitergegeben würden. Fragt man in den Datenzentren der Versuchsstädte nach, die heute schon die Zukunft proben, klingt es anders: Selbstverständlich würde zum Beispiel das Alibaba-eigene Bonitätssystem «Sesame-Credits» in die Berechnung einfliessen, sagt eine Sprecherin der «Smart-City» Hangzhou bereitwillig.

Ein Mann mit Pelzmütze macht ein Selfie.
Legende: Der beste Spion: das eigene Smartphone. Getty Images

Schlechte Freunde

Liu Hu hilft das alles wenig. Obwohl er eine Genugtuungssumme an den von ihm porträtierten und angeblich zu Unrecht als korrupt bezeichneten Beamten bezahlt habe, sei er immer noch auf der schwarzen Liste.

Wenn das soziale Kreditsystem einmal greift, werden sich manche zweimal überlegen, Leute wie Liu Hu in ihre sozialen Netzwerke einzufügen. Denn schlechte Freunde sollen sich auch negativ auf den eigenen sozialen Kredit auswirken.

«Telefonisches Schattenboxen»

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Vor Chinas totaler Überwachung gibt es kein Entrinnen. Das gilt besonders auch für uns ausländische Journalisten. Ein kleines Beispiel dafür ist unsere Reise in die zentralchinesische Millionenmetropole Chongqing, wo wir den Investigativ-Journalisten Liu Hu interviewten.

Obwohl wir die Kommunikation mit ihm über chinesische Kanäle auf ein Minimum reduziert und uns über ausländische, verschlüsselte Chatkanäle unterhalten hatten, erlebten wir schon kurz nach unserem Treffen eine Überraschung:

Keine zehn Minuten nach dem Einchecken in unser Hotel, klingelt das Telefon meiner chinesischen Assistentin. Die Rezeptionistin verlangt, dass wir uns bei der Einwanderungsbehörde melden, da hätte jemand ein paar Fragen. Wir überlegen uns, gleich abzureisen, beschliessen dann aber doch einen Rückruf.

Was folgt, ist ein telefonisches Schattenboxen, wie man es nach ein paar Jahren in China als Journalist kennt. Die Devise ist immer die gleiche: Nichts preisgeben, abwarten und herausfinden, wie viel das Gegenüber von unseren Plänen weiss und wie viel es nur erahnt.

Was wir hier machen? Ein Porträt über die Zukunft von Chinas Megacities, beschliessen wir als Antwort. Es interessiere uns, wie neuste Technologie zur Städteplanung genutzt werde.

Die Antwort war nicht gelogen und goldrichtig, wie sich später herausstellte. Die Behörde liess uns diesmal in Ruhe – der Zeigefinger war aber klar da: «Big Brother is watching you...»

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