Zerreissprobe EU-Gipfel Europa und Migration: Alleingänge statt Solidarität

Die EU strauchelt in der Migrationsfrage, populistische Politiker geben den Ton an. Der EU-Gipfel wird zur Machtprobe.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Nationale Interessen bestimmen die Flüchtlingspolitik der EU.
  • Italien möchte das Dublin-System abschaffen.
  • Österreich strebt eine Hardliner-Allianz zwischen Rom, Wien und Berlin an.
  • In Deutschland wird der Asylstreit zum innenpolitischen Machtkampf.
  • Die «Festung Europa» wird zum Rezept.

Das Thema Migration spaltet die EU. Auf der Kippe: Das Schengen-Dublin-System, Synonym für Reisefreiheit für Millionen von Bürgern, aber auch Regelwerk für die europäische Zusammenarbeit im Asylwesen. Dublin schreibt vor, wann ein Land für einen Asylantrag zuständig ist.

«Dieses angestrebte System hat noch nie wirklich funktioniert und steht nun politisch vor dem Ende. Von Anfang an wollten die Staaten vermeiden, dass sie für ein Asylverfahren verantwortlich sind», sagt Constantin Hruschka, Experte für Asylrecht. Der Wendepunkt sei mit der Schliessung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal erfolgt: «Nun versucht man das Recht anzupassen, wo die Politik bereits seit zwei Jahren Realität ist.»

Realität, das heisst in diesem Fall: Viele Länder, viele Eigeninteressen. So kontrollieren mehrere Schengen-Staaten ihre Grenzen wieder.

Gemeinsamer Nenner: «Festung Europa»

Vor dem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni sind wenig Gemeinsamkeiten zu erkennen. Konsens besteht heute weitgehend im Schutz der Aussengrenzen. Dabei gilt «Festung Europa» kaum als Unwort, sondern quasi als neues Rezept: Das Budget für den Grenzschutz soll massiv aufgestockt werden. Die EU will zusätzlich Tausende Grenzbeamte einsetzen. Dies obwohl in diesem Jahr bislang so wenige Flüchtlinge nach Europa kamen wie seit drei Jahren nicht mehr.

Italien fordert Umverteilung

Beispiel Italien: Das Mittelmeerland fühlt sich von Brüssel im Stich gelassen und verlangt eine Verteilung der Migranten. Die neue Regierung poltert mit fremdenfeindlichen Parolen und kritisiert Flüchtlingshelfer. Innenminister Matteo Salvini droht damit, Häfen zu schliessen und legt sich im Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen mit Frankreich an.

Ganz nach seinem Sinne: Mario Borghezio, der rechtsextreme Ideen vertritt, politisiert für die Regierungspartei Lega in Brüssel. Gegenüber der «Rundschau» sagt er: «Alles sind sich einig. Die Migrationspolitik ist trügerisch. Man muss sie ändern.» Gemeinsamkeit und Solidarität: Vergangenheit. Italien spielt eine Schlüsselrolle in der Migrationsfrage. Der neuste Plan: Italien möchte das Dublin-System abschaffen.

Österreich übt Ernstfall

Auch in Österreich bestimmen nun Hardliner die Migrationspolitik. Die Regierung sträubt sich gegen eine Umverteilung von Migranten. Das Land wird ab Juli die Ratspräsidentschaft in der EU übernehmen. Ein geplanter Schwerpunkt: Die Migration. Kanzler Sebastian Kurz spricht von einer «Achse der Willigen». Eine heikle Wortwahl, die an die historisch nicht unbelastete Allianz zwischen den Achsenmächten im Zweiten Weltkrieg erinnert, sagen Kritiker.

Wer die Forderungen der einzelnen Länder anschaut, stellt rasch fest: Gemeinsamkeiten gibt es kaum. Gegenüber der «Rundschau» sagt Heinz Becker, EU-Abgeordneter für Kurz' Partei, die ÖVP: «Die Italiener wollen alle ankommenden Migranten in Europa verteilen. Das ist eine bizarre Überlegung und hat keine Chance.»

Derweil probt Innenminister Herbert Kickl von der rechtspopulistischen FPÖ den Ernstfall: Er simulierte mit Soldaten und Polizisten einen Ansturm von Flüchtlingen an der Grenze.

Deutschland streitet über Grenzschliessung

Auch in Deutschland dominiert das Thema Migration. Kanzlerin Angela Merkel, die für gemeinsame Lösungen in Europa plädiert, wird innenpolitisch von Hardlinern der Schwesternpartei CSU unter Druck gesetzt – unter anderem von Innenminister Horst Seehofer. Dieser möchte die deutsch-österreichische Grenze schliessen. Das würde aber gegen EU-Recht verstossen und hätte direkte Folgen für das Nachbarland.

«Der grösste Schaden solcher Politik: Man denkt wieder in nationalen Grenzen. Diese wollte man aber aus wirtschaftlichen und politischen Gründen abschaffen», sagt Asylexperte Constantin Hruschka. Politische Handlungen würden durch Management- und Effizienzgedanken gerechtfertigt, egal ob sie geltendes Recht missachten würden.

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