Dringliche Nationalratsdebatte Afghanistan: Flüchtlingsfrage reisst altbekannte Gräben auf

Im Nationalrat zeigen sich die traditionellen Differenzen in der Asylfrage. Der Bundesrat agiert weiter abwartend.

Dass die Taliban in Afghanistan an die Macht gekommen sind, ist nicht gut für viele Menschen in Afghanistan. Darin waren sich alle im Nationalrat einig. Bei der Frage, wie genau die Schweiz das Leid lindern kann, prallten aber völlig unterschiedliche Sichten aufeinander. Vor allem zwischen der SVP auf der einen sowie SP und Grünen auf der anderen Seite.

Die Position der SVP: Die Schweiz dürfe jetzt nicht einfach afghanische Menschen in die Schweiz holen, sondern müsse kühlen Kopf bewahren. Roger Köppel warnte: «Die SVP setzt alles daran, um ein neuerliches Asylchaos in der Schweiz zu verhindern. Die SVP steht erdbebensicher auf der Grundlage unseres Asylrechts und unserer Asyltradition.»

Und diese Asyltradition – nach SVP-Lesart – heisst eben, verfolgten Menschen möglichst nahe bei ihrer Heimat Schutz zu bieten: «Und nicht, indem sie diese Leute als Asylberechtigte in die Schweiz holen und ihnen eine permanente Niederlassungsbewilligung geben – sondern, indem sie diese Menschen auf Zeit schützen, am besten in der Nähe der Konfliktgebiete.»

Handeln Sie endlich, Frau Keller-Sutter!
Autor: Fabian Molina Nationalrat (SP/ZH)

Das sieht die Linke anders. In den Nachbarstaaten Afghanistans leben mehr als zwei Millionen Flüchtlinge, die meisten sind schon vor dem Machtwechsel geflohen. 10'000 davon soll die Schweiz aufnehmen, verlangen SP und Grüne – im Rahmen eines «Resettlement-Programms». «Resettlement» meint: Vor allem besonders verletzliche Personen, Frauen und Kinder etwa, bekämen in der Schweiz dauerhaft Schutz.

Grünen-Parteipräsident Balthasar Glättli bekräftigte die Forderung – und kritisierte die SVP scharf. Diese habe sich dafür eingesetzt, dass man ein Burka-Verbot ausspricht. «Und nun schlagen die gleichen Leute mit Anlauf die Türe zu, wenn Menschen vor einem Burka-Zwang in die Schweiz fliehen wollen.» Das sei heuchlerisch.

Fabian Molina von der SP warb auch für die Aufnahme von Menschen aus dieser Gruppe. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk habe die Schweiz jetzt auch ausdrücklich dazu aufgefordert. Molina sprach direkt die Justizministerin an: «Sie, Frau Bundesrätin, haben es in der Hand Solidarität zu zeigen und Menschen vor Verfolgung zu retten. Handeln Sie endlich, Frau Keller-Sutter!»

Auch die Grünliberalen sind für die Aufnahme zusätzlicher Resettlement-Flüchtlinge. Dagegen stützten die FDP und die Mitte-Partei den Bundesrat: Abwarten und schauen, was die anderen Staaten machen, aber gleichzeitig die finanzielle Soforthilfe erhöhen. Dies auf insgesamt 60 Millionen Franken.

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Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter begrüsste es, «dass die Schweiz ihre humanitäre Hilfe vor Ort erhöht. Der Schutz und die Versorgung von Vertriebenen in Afghanistan und seinen Nachbarstaaten steht für unsere Fraktion im Vordergrund.»

Bundesrätin Keller-Sutter liess sich weder von rechten Warnungen noch von linken Forderungen umstimmen. Sie blieb im Namen des Bundesrats in der Afghanistan-Frage bei dem, was die Rechte als konzept- und die Linke als mutlos bezeichnet: «Der Bundesrat ist der Meinung, dass vorschnelle Entscheide und spontane Ankündigungen nicht zielführend sind und sogar negative Folgen haben können.»

Nächste Woche gibt es ein weiteres EU-Ministertreffen zur Frage der Afghanistan-Flüchtlinge. Der Bundesrat wird diese Diskussionen abwarten. Und die Bitte, die die Schweiz vom UNO-Flüchtlingshilfswerk erreicht hat, bezeichnete Keller-Sutter als «unspezifisch». Und sie erinnerte daran, dass das Parlament es erst letzte Woche abgelehnt hat, das Kontingent für solche Flüchtlinge zu erhöhen.

Echo der Zeit, 30.09.2021, 18 Uhr

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