Geschworenengericht im Tessin Die letzten Geschworenen der Schweiz

In der Schweiz wurden Geschworenengerichte abgeschafft – nur im Tessin hält man daran fest. Mit einem Kniff hat man die Tradition gerettet. Im Südkanton ist man überzeugt, dass diese Laienrichter für die Urteilsfindung wichtig sind.

Paola Eicher-Pellegrini ist eine der letzten Geschworenen der Schweiz. Die Tessiner Unternehmerin wird durchschnittlich zwei- bis dreimal jährlich per Losentscheid aufgeboten.

Dann ist für Eicher-Pellegrini klar, dass sie vor und während des Prozesses keine Medien zum Fall konsumiert. Sie geht auch nicht ins Internet, um mehr über den Fall zu erfahren. Sie wolle unbelastet am Prozess teilnehmen.

Wichtig ist, dass du dich nicht beeinflussen lässt.
Autor: Celestino Falconi Geschworener

Gleiches macht Celestino Falconi. Der pensionierte Lehrer war bereits an 20 Prozessen als Geschworener dabei. Es sei klar, dass man während eines Gerichtsprozesses nicht völlig von der Aussenwelt abgeschottet sei. Gelegentlich schnappe man etwas aus den Medien auf. «Wichtig ist, dass du dich nicht beeinflussen lässt.»

Geschworenengerichte im Tessin

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Im Tessin gibt es zwei Geschworenengerichte:

Das Geschworenengericht erster Instanz befindet sich in Lugano. Es kommt bei Fällen mit einer angeklagten Freiheitsstrafe von über fünf Jahren zum Zug.

Das Geschworenengericht zweiter Instanz ist dem Appellationsgericht in Locarno angegliedert.

In der ersten Instanz kommt das Geschworenengericht ungefähr in zehn bis zwölf Fällen pro Jahr zum Einsatz. In der zweiten Instanz fällt es in vier bis sechs Fällen Urteile.

Dass die beiden weiterhin als Laien darüber entscheiden, ob ein Angeklagter schuldig ist oder nicht, haben sie Filippo Contarini zu verdanken. Der Tessiner Jurist – mittlerweile Assistenzprofessor an der Universität Lausanne – hatte sich nicht damit abgefunden, dass die Geschworenengerichte schweizweit abgeschafft werden. Dies sah die neue Strafprozessordnung, die 2011 in Kraft trat, aber vor.

Wie werden Geschworene bestimmt?

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  • Im Tessin gibt es 150 Geschworene.
  • Diese werden von den Parteien bestimmt.
  • Bei jedem Gerichtsfall werden 14 Geschworene ausgelost.
  • Anklage und Verteidigung können je vier Geschworene streichen.
  • Von den restlichen sechs Geschworenen fungieren zwei als Ersatzgeschworene.
  • Das Gremium besteht aus drei Richtern und vier Geschworenen.

Contarini lancierte eine Petition zur Rettung der Geschworenen und erreichte, dass das Tessiner Stimmvolk Nein zur Abschaffung sagte. Somit blieben dem Tessin als einzigem Kanton diese Laienrichter erhalten. Damit die Geschworenengerichte aber auch nach Einführung der neuen Strafprozessordnung wirken konnten, waren Anpassungen nötig.

Menschen vor einem Bürogebäude mit Kamera auf Stativ.
Legende: Das Geschworenengericht in Lugano ist dem kantonalen Strafgericht angegliedert. Es befindet sich in diesem schmucklosen Betonbau. Keystone/Karl Mathis

So erhalten die Geschworenen neu die Akten über den Strafprozess bereits im Vorfeld und nicht mehr erst im Gerichtssaal bei Prozessbeginn. Dieses sogenannte Unmittelbarkeitsprinzip ist nämlich mit der neuen Strafprozessordnung nicht mehr erlaubt.

Geschworene bringen eigene Sichtweise ein

Dennoch bleibt der Charakter des Geschworenengerichts erhalten, ist Contarini überzeugt. Die Geschworenen brächten eine andere Sicht in die Urteilsfindung ein, weil sie eben keine Experten seien, sondern Leute aus dem Volk. Geschworene könnten auch Juristen sein, aber eben auch Gewerbler, Angestellte usw. Diese würden die eigene Sichtweise einbringen.

Geschworenengerichte können leicht überfordert sein.
Autor: Felix Bommer Strafrechtsprofessor Universität Zürich

Felix Bommer, Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, kann dieser Argumentation wenig abgewinnen. Er findet es richtig, dass in der Schweiz vor rund 15 Jahren die letzten Geschworenengerichte in Genf, Neuenburg, Waadt und Zürich abgeschafft wurden. Er ist der Meinung, dass die Rechtssprechung immer komplizierter wird. «Geschworenengerichte können leicht überfordert sein», sagt Bommer.

Ein Etikettenschwindel?

Für Bommer sind die Tessiner Geschworenengerichte keine richtigen mehr. Das typische Merkmal, dass die Geschworenen ohne Vorkenntnisse in den Gerichtsaal kommen, sei im Tessin nicht mehr gegeben.

Gerichtssaal mit leeren Stühlen und Publikum im Hintergrund.
Legende: Früher weit verbreitet in der Schweiz – nun haben sie nur noch im Tessin überlebt: die Geschworenengerichte. Keystone/Karl Mathis

Im Tessin spricht man allerdings weiterhin von «assesori giurati» – Geschworenen. Für die langjährige Geschworene Paola Eicher-Pellegrini ist klar, man sei kein Abnickergremium. Man übernehme praktisch nie das Strafmass des Richters. Meistens würden die Geschworenen das Strafmass erhöhen oder senken.

Diese Aussagen bestätigen den Juristen Contarini darin, dass das Geschworenengericht auch heute noch seine Berechtigung hat.

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Echo der Zeit, 14.10.2024, 18 Uhr

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