Studien-Skandal Unterschlagenes Wissen schadet

Rund 20 Prozent der Schweizer Studien werden nicht veröffentlicht – zum Nachteil von Forschung, Medizin und Betroffenen.

  • Recherchen von SRF zeigen, dass fast jede fünfte klinische Studie in der Schweiz nicht veröffentlicht wird und ihre Ergebnisse deshalb für andere Forschende, Patienten und Ärzte nicht zugänglich sind.
  • Patienten werden deshalb falsch behandelt, obwohl man es besser wüsste. Das kostet nicht nur weltweit jährlich Milliardenbeträge, sondern auch Hunderttausenden von Menschen die Gesundheit oder gar das Leben.
  • Auf die Frage, wie viele Studien in der Schweiz unveröffentlicht bleiben, konnten weder die Universitätsspitäler noch Behörden wie das Bundesamt für Gesundheit, die Ethikkommissionen oder Swissmedic Auskunft geben.

Was die gesunden Frauen und Männer am Zentrum für klinische Forschung des Universitätsspitals Genf machen, dient dem medizinischen Fortschritt: Sie schlucken freiwillig ein Hustenmittel und ein Antidepressivum.

Die Ergebnisse dieser Studie könnten dereinst bei der richtigen Dosierung von Medikamenten helfen – so sie denn veröffentlicht werden.

Verschwiegene Probleme, verheerende Folgen

Das ist durchaus nicht immer der Fall. Und kann weitreichende Konsequenzen haben. Prominentes Beispiel der jüngeren Vergangenheit: Die künstliche Bandscheibe «Cadisc», die im weltweiten «Implant Files»-Skandal unrühmliche Bekanntheit erlangte.

Die Resultate einer klinischen Studie mit der Bandscheibe wurden nie veröffentlicht, obwohl es bereits kurz nach der Marktzulassung 2010 Probleme gab.

Wie ein damaliger Studienleiter gegenüber der SRF-Gesundheitssendung «Puls» anonym aussagt, habe er die Komplikationen damals vorschriftsgemäss der Herstellerfirma gemeldet. Die liess sich bis 2014 Zeit, um das Implantat vom Markt zu nehmen. Und in der Fachliteratur fehlen die Resultate der Studie bis heute.

In der Medizin sind zig solcher Fälle dokumentiert. Sie kosten nicht nur weltweit Milliardenbeträge, sondern auch Hunderttausenden von Menschen die Gesundheit oder gar das Leben.

Jede fünfte Studie bleibt unveröffentlicht

Verstauben auch in der Schweiz Resultate in den Schubladen der Forschenden? Wissenschaftliche Untersuchungen legen es nahe. Doch Daten zur gesamten Schweiz gibt es nicht.

Zwar nennen die meisten von «Puls» angefragten Pharmafirmen Zahlen – von den Universitätsspitälern als grosse Forschungseinrichtungen sieht sich allerdings kein einziges dazu imstande. Ebenso wenig Bescheid wissen Behörden wie das Bundesamt für Gesundheit, die Ethikkommissionen oder Swissmedic.

So hat sich «Puls» gemeinsam mit SRF-Datenjournalisten selber an die Arbeit gemacht, um die Informationen aus den einschlägigen Datenbanken zusammenzusuchen. Dreh- und Angelpunkt der langwierigen Arbeit: die Nummer, die jede klinische Studie bei der Registrierung erhält.

Würden sich zu jeder Nummer Resultate finden?

So kam SRF zu den Zahlen

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Für die Durchführung von klinischen Studien gelten klare rechtliche Vorgaben, für die Publikation gibt es anerkannte Wege.

Anhand dieser Kriterien überprüfte SRF alle Studien mit Probanden aus der Schweiz, die im Zeitraum von 2007 bis 2016 abgeschlossen wurden. Das genaue Vorgehen ist in diesem Making-Of zusammengefasst.

2500 Code-Zeilen später ergab die Suche folgende Ergebnisse:

  • Von allen in einem Zeitraum von 10 Jahren abgeschlossenen klinischen Studien mit Schweizer Versuchspersonen wurden nur 37 Prozent in den dafür vorgesehenen Registern veröffentlicht.
  • Auf immerhin 64 Prozent kommt man, wenn man die einschlägigen Datenbanken nach Veröffentlichungen in medizinischen Fachzeitschriften durchsucht.
  • Die Zahl erhöht sich auf 82 Prozent, wenn die Suchmaschine für akademische Dokumente Google Scholar zum Einsatz kommt.

82 Prozent klingt nach viel. Es bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass offenbar 18 Prozent in den Schubladen der Verantwortlichen verschwinden – also fast jede fünfte Studie.

«Es ist ein Skandal, dass ein derart beträchtlicher Prozentsatz von klinischen Studien nicht veröffentlicht ist», empört sich Matthias Briel, international renommierter Forscher zum Thema unveröffentlichter Studien. «Diese Ergebnisse sind nicht zugänglich für andere Forschende, Patienten oder Ärzte!»

Es müsse für Forschende selbstverständlich sein, Studienergebnisse in irgendeiner Form zu veröffentlichen – auch wenn es in der Schweiz bisher keine gesetzliche Publikations-Pflicht gebe.

Warum werden Studien nicht veröffentlicht?

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Die Bandbreite reicht vom bewussten Verheimlichen über Schlamperei bis hin zu nachvollziehbaren Gründen, etwa weil die Finanzierung fehlt.

Sowohl Pharmafirmen als auch Forschende haben eigentlich ein Interesse daran, ihre Resultate zu veröffentlichen – allerdings nur bei Studien mit guten oder gar bahnbrechenden Resultaten.

Klappt etwas nicht so gut, ist es weit schwieriger, solche Resultate in angesehenen Fachzeitschriften zu publizieren. Oder es wäre schlicht geschäftsschädigend und wird deshalb unterlassen.

Dabei sind negative Resultate genauso wichtig wie positive. Ein grundsätzlicher Missstand im Wissenschaftsbetrieb, der zwar erkannt ist, um dessen Lösung sich aber die meisten Beteiligten drücken.

Eine Auffassung, die vom Weltärztebund, der Weltgesundheitsorganisation WHO und auch von der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften SAMW geteilt wird. In ihren Richtlinien sprechen sie alle klar von einem «ethischen Imperativ» und einer «Publikationspflicht». Auch ohne Gesetz.

Studierende sind besorgt

Nicht länger tatenlos zusehen will die internationale Studierendenorganisation Universities Allied for Essential Medicines UAEM . Tristan Kaufmann, Präsident des Genfer Ablegers der Organisation, macht sich Sorgen: «Wenn die Resultate aus klinischen Studien nicht transparent und vollständig veröffentlicht werden, werde ich als zukünftiger Arzt eine verzerrte Sicht haben und deshalb nicht die richtigen Medikamente verschreiben können.»

Andere UAEM-Mitglieder weisen darauf hin, dass man zwar im ersten Studienjahr für die Problematik sensibilisiert werde – aber nichts passiere, um die Situation effektiv zu verbessern.

Auch zur Situation im Universitätsspital Genf hat «Puls» recherchiert:

  • Lediglich zu 11 Prozent der untersuchten Studien wurden Resultate im Register veröffentlicht.
  • 47 Prozent sind es, wenn man zusätzlich die erwähnten Datenbanken durchsucht.
  • Auf 77 Prozent kommt man schliesslich nach Google-Scholar-Recherche.

Ein knappes Viertel aller Studien verstaubt also am Unispital Genf in den Schubladen der Forschenden.

Wichtigeres zu tun

Konfrontiert mit den Ergebnissen verweisen die Verantwortlichen der Klinik auf die zeitliche Belastung der Forschenden: Diese seien mit Visiten, Operationen und anderen Eingriffen ohnehin oft überlastet – und dann käme die Forschungsarbeit noch oben drauf.

Dass der Mehraufwand erstens lästig und zweitens nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, wird zwar als nicht sonderlich gute Ausrede erkannt. Das Universitätsspital Genf sieht seine Verantwortung aber trotzdem eher in der Weiterbildung und der Ermunterung der Forschenden, als darin, «Polizist zu spielen».

Eine Haltung, die bei den Versuchspersonen in Genf auf wenig Verständnis stösst. «Ich möchte, dass die Resultate in irgendeiner Form publiziert werden, um der Forschung und vor allem den Patienten zu dienen», betont einer von ihnen, während eine andere grundsätzliche Überlegungen ins Feld führt: «Studien sollten auch veröffentlich werden, wenn sie nicht funktioniert haben. So werden nicht nochmal dieselben Fehler gemacht!»

Unispital Basel will Publikations-Quote verbessern

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Während man am Genfersee am Status quo nicht viel ändern will, soll am Rhein die Anzahl nicht publizierter Studien aktiv gesenkt werden.

Die Ausgangslage:

  • In den letzten Jahren wurden 13 Prozent der Resultate in Registern veröffentlicht.
  • Auf 48 Prozent kommt man mit den Publikationen in Fachzeitschriften,
  • auf 69 Prozent mit Google Scholar.

31 Prozent der Studien blieben also unveröffentlicht. Diese bescheidene Quote soll mit tatkräftiger Unterstützung verbessert werden.

«Das Universitätsspital Basel hat zwei zusätzliche Personen eingestellt, um Forschende von der Registrierung bis zur Publikation zu unterstützen», erklärt Christiane Pauli-Magnus, Leiterin Departement Klinische Forschung. «Also beim ganzen Prozess von A bis Z, so dass wir wirklich wissen, was läuft und was zum Schluss publiziert wird.»

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