Verdacht auf Kriegsverbrechen Antrag auf Haftbefehl für Netanjahu wird für Kontroversen sorgen

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs sieht hinreichende Belege dafür, dass Israels Regierungschefs Benjamin Netanjahu, der Verteidigungsminister, aber ebenso drei Vertreter der Hamas-Führung verantwortlich sind für Kriegsverbrechen. Er beantragt nun Haftbefehle gegen sie. Das wird für heftige Kontroversen sorgen.

Erwartet wurde der Schritt von ICC-Chefankläger Karim Khan seit längerem. Nun hat er ihn getan. Seit Monaten ermitteln er und sein Team. Nun haben sie offenbar genügend Beweismaterial. Noch muss ein Richterausschuss des Internationalen Strafgerichtshofs seine Zustimmung geben.

Passiert das, werden der israelische Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant per internationalem Haftbefehl gesucht. Und zwar wegen Kriegsverbrechen: Aushungern von Zivilpersonen, Verweigern humanitärer Hilfe, willkürliche Tötungen und militärische Angriffe gegen die Bevölkerung.

Netanjahus Reputation dürfte leiden

Das heisst: In 124 Staaten, die den ICC mittragen, darunter die Schweiz, nicht aber die USA, müssten Netanjahu und Gallant bei allfälligen Besuchen verhaftet werden. Ihre Reisefreiheit würde damit erheblich eingeschränkt. Zumal nicht zuletzt mit Israel befreundete Länder hinter dem ICC stehen.

Haftbefehle fordert der ICC-Chefankläger auch gegen die Hamas-Führer Ismail Haniyeh, Yahya Sinwar und Mohammed Deif. Ihnen wirft er Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, Geiselnahmen, Vergewaltigungen und Folter. Sie dürften indes die Haftbefehle weniger stören. Als Strippenzieher der Terrororganisation Hamas sind sie ohnehin geächtet und haben keine Reputation zu verlieren.

Solidarisierungswelle in Israel

In den vergangenen Wochen fand ein heftiges Tauziehen vor und hinter den Kulissen statt. Die USA und die Gruppe der G7-Staaten machten Druck auf den ICC-Chefankläger, auf Haftbefehle gegen israelische Regierungsmitglieder zu verzichten. Arabische und andere Länder hingegen bedrängten ihn, zügig solche auszustellen. Zwar schloss sich Israel dem internationalen Strafgerichtshof nicht an, wohl aber Palästina. Deshalb ist dieser zuständig für Kriegsverbrechen im Gazastreifen oder im Westjordanland.

In Israel führt der Antrag auf Haftbefehle zunächst zu einer Solidarisierung mit der Regierung. Benny Gantz, der eben noch drohte, aus dem Sicherheitskabinett auszutreten und der gewiss kein Freund Netanjahus ist, spricht von einem moralischen Versagen des ICC. Oppositionsführer Jair Lapid hält die Ankündigung für ein Desaster. Und Staatspräsident Jitzhak Herzog äussert sich höchst empört.

Kritik an Israel wird zunehmen

Zweifellos wird Israel Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant nicht nach Den Haag ausliefern. Genauso wenig wie Russland den seit März 2023 ebenfalls mit einem ICC-Haftbefehl gesuchten Staatschef Wladimir Putin an den Strafgerichtshof überstellt.

Dennoch sind die Haftbefehle bedeutsam, nicht nur symbolisch. Immerhin handelt es sich beim ICC um eine international zwar nicht einhellig, aber breit anerkannte Justizinstanz. Die Kritik an der Art und Weise, wie Israel sein Selbstverteidigungsrecht in Gaza ausübt, wird noch lauter werden. Der weltweite Druck auf Israel zusätzlich steigen.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

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Echo der Zeit, 20.05.2024, 18 Uhr

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