Umstrittene IV-Gutachten Können Betroffene abgelehnte Fälle neu aufrollen?

Die IV-Gutachterfirma PMEDA bekommt keine Aufträge mehr vom Bund. Abgelehnte Fälle kommen allenfalls erneut vor Gericht.

Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) hat entschieden, der PMEDA keine neuen Gutachter-Aufträge für die IV zu geben, weil eine Qualitätskommission in Gutachten-Stichproben aus den Jahren 2022/2023 gravierende Mängel festgestellt hat.

IV-Betroffene hatten im «Kassensturz» schon seit Jahren auf ihres Erachtens mangelhafte Gutachten der PMEDA hingewiesen, in denen sie als arbeitsfähig eingestuft worden waren.

Das hatte zur Folge, dass ihnen eine Rente verweigert wurde, mit teils existentiellen Folgen. Jetzt schöpfen Betroffene wegen der Kommissions-Empfehlung neue Hoffnung.

Möglicherweise Revision als Rechtsmittel

Patientenrechts-Anwalt Rémy Wyssmann rät aufgrund des BSV-Entscheids jetzt allen Betroffenen, die einen negativen Rentenentscheid wegen eines PMEDA-Gutachtens haben, vorsorglich Revision oder Wiedererwägung einzulegen. Die Frist dazu laufe nun – bis Ende Jahr.

Die Chance auf Erfolg sei jedoch eher gering. Es gebe allerdings bereits einen Fall aus Genf, bei dem das Bundesgericht eine Revision zugelassen habe: «Ein Gutachter hat qualitativ nicht richtig gehandelt und dort hat das Bundesgericht später gesagt, ein Revisionsgesuch sei möglich.»

Die PMEDA hat in den letzten Jahren schätzungsweise gut 2000 Gutachten in der Schweiz erstellt. Auch für Privatversicherer. Eine Umfrage von «Kassensturz» zeigt, dass die Hälfte der angefragten, grossen Taggeldversicherer PMEDA-Gutachten erstellen liessen. Alle wollen nach dem Entscheid des BSV die Zusammenarbeit beenden. Wiedererwägungen von alten Gutachten müssten im Einzelfall geprüft werden.

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PMEDA-Chef sieht sich als Opfer

Erstmal äussert sich jetzt auch die angegriffene Gutachter-Firma PMEDA. Gründer und Gutachter Henning Mast will den Entscheid des BSV anfechten und kritisiert: «Sowohl der falsche Entscheid des BSV als auch die falsche Empfehlung der EKQMB (Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung) sind unter Verletzung sämtlicher Verfahrensrechte gefällt worden und werden seitens PMEDA juristisch mit allen Mitteln angefochten.» Die Qualitätskommission habe zudem ihre Qualitätskriterien nicht öffentlich gemacht, niemand kenne die Kriterien, nach denen die Gutachten-Stichproben bewertet worden seien, kritisiert Mast.

Betroffene wollen eine faire Lösung

Betroffene können nicht verstehen, dass eine Firma wie PMEDA so lange unbehelligt wirtschaften konnte. Dass niemand, weder Politik noch Verwaltung, eingeschritten sei. «Dass man so lange beobachtet hat, dass in der Firma etwas schiefläuft, das ist sehr fragwürdig», sagt U.S.. Die Gutachter-Firma sei nicht tragbar. Ähnlich sieht es S.K.: «Das dürfte es in der Schweiz eigentlich nicht geben.» Diese Firma habe Millionen von Franken verdient – und man habe sie gewähren lassen.

Dass Menschen mit einem rechtskräftigen, negativen Rentenentscheid mit der Situation hadern, ist verständlich. S.K., der letztes Jahr nach über 10-jähriger Leidenszeit ein neues Gutachten erhalten hat – mit positivem Rentenentscheid – weiss, welche Gefühle Betroffene durchleben. Mit zittriger Stimme sagt er: «Es ist der Horror. Es ist nicht fair, nicht gerecht. Es muss eine faire Lösung gefunden werden.» Die abgeschlossenen PMEDA-Fälle müsse man nach dem BSV-Entscheid neu aufrollen, so S.K..

Das Bundesamt für Sozialversicherungen nimmt zum Fall live in der Sendung «Kassensturz» Stellung.

Kassensturz, 10.10.23, 21:05 Uhr

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